»Die Niederschrift des Gustav Anias Horn« und das Märchen vom Ritter Blaubart

Gustave Doré: Barbe Bleue - 1862
Gustave Doré: Barbe Bleue - 1862

Seit gestern steht unter Über mich und »Die Ordnung der Unterwelt« eine aktualisierte Fassung meiner Forschungsergebnisse zu »Fluss ohne Ufer« zum Download zur Verfügung. Aufgrund des zunehmenden Interesses, auf das die Studie in letzter Zeit stößt, habe ich die 1. Auflage aus dem Jahr 2009 von kleinen Fehlern bereinigt, die mir nach dem letzten Lektorat noch aufgefallen sind und die ich mir für eine gelegentliche Überarbeitung im Buch vermerkt hatte. Beim Einarbeiten der Änderungen in die PDFs bin ich auch wieder auf eine Notiz gestoßen: »Doré!«, stand da am Seitenrand und erinnerte mich an eine noch ausstehende Recherche zum Blaubart-Topos in der »Niederschrift des Gustav Anias Horn«. Da ich, um den Umbruch nicht zu gefährden, in den PDFs nur kleinste Veränderungen vornehmen konnte und das Ergebnis der Recherche aktuell nicht in die Studie einarbeiten kann, will ich hier darüber berichten.

In  »Die Ordnung der Unterwelt« II weise ich anhand ausführlicher Textanalysen und der Auswertung eines Quellenfundes nach, dass Jahnn den Ich-Erzähler der »Niederschrift des Gustav Anias Horn« und die darin beschriebenen Handlungen auf der Basis der Geschichte des berüchtigten Serienmörders Gilles de Rais erfunden hat. Dass Jahnn hierbei eine Quelle zur Geschichte des Mörders vorlag, geht aus dem in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek lagernden Original-Manuskript hervor wie auch aus mehreren konkreten Bezugnahmen Jahnns auf die Geschichte des Mörders in der »Niederschrift« und im »Holzschiff«.

Aufgrund meiner langjährigen Beschäftigung mit »Fluss ohne Ufer« war mir bereits im Jahr 2002 klar, dass der Gilles-de-Rais-Topos großen Einfluss auf die Konzeption der Handlung gehabt haben musste, doch ich wusste noch immer nicht, welche Quelle Jahnn verwendet hatte. Also schrieb ich zu Beginn des Jahres 2003 an Jahnns Tochter Signe Trede Jahnn, worauf mir ihr Mann Yngve Jan Trede antwortete und mir in diesem Schreiben den entscheidenden Hinweis auf die Quelle gab. Bei der Niederschrift der »Niederschrift des Gustav Anias Horn« stützte Jahnn sich auf Eugène Bossards Gilles de Rais. Maréchal de France, dit Barbe-Bleue. 1404-1440. Das Buch, das 1886 erstmals zusammen mit den historischen Protokollen zum Gerichtsprozess des Mörders erschien, ist inzwischen von Google digitalisiert und im Netz verfügbar (s. Link). Es liegt bis heute nicht auf Deutsch vor. Auch Jahnn, der während seiner Gymnasialzeit in Hamburg Französisch gelernt hatte, rezipierte es in der Originalsprache.

In diesem Zusammenhang ist auch der Topos vom Blaubart relevant. Wie Bossard in seiner Studie über de Rais' Leben ausführlich darlegt, sei dieses bekannte Volksmärchen auf der Basis der Morde des Gilles de Rais entstanden. Es stammt ursprünglich aus Frankreich und gelangte über die Volksmärchensammlung von Charles Perrault unter dem Titel »Ritter Blaubart« auch in den deutschen Sprachraum: Ein angesehener Ritter mit einem merkwürdigen blauen Bart hat heimlich der Reihe nach seine Ehefrauen aufs Grausamste getötet und bewahrt ihre Leichen in einem verschlossenen, mit Tabu belegten Zimmer seiner Burg auf, bis seine neue Ehefrau, der Blaubart den Schlüssel anvertraut, sich Zutritt verschafft und die Morde entdeckt. Kurz bevor ihr Mann auch sie für ihren Ungehorsam zur Rechenschaft ziehen kann, kommen ihr ihre Brüder zu Hilfe und töten stattdessen den Mörder.

Doré: Die Brüder eilen zur Rettung
Doré: Die Brüder eilen zur Rettung

Konkreten Bezug auf das Märchen vom Ritter Blaubart nimmt Jahnn im ersten Band der »Niederschrift« in einer Episode, die auf Gran Canaria spielt. In jungen Jahren, so berichtet der Ich-Erzähler Gustav Anias Horn in seiner Niederschrift, habe er in der Nähe von Las Palmas einen rotbärtigen Arzt getroffen, über den er dachte: »– sie nennen ihn den Alten. Warum nennen sie ihn nicht Feuerbart?« Dieser habe in seinem Keller eine zerstückelte Frauenleiche aufbewahrt (Näheres dazu in »Die Ordnung der Unterwelt« II, S. 257 f.).

Einen noch expliziteren Hinweis auf seine Auseinandersetzung mit dem Märchenstoff gibt Jahnn im zweiten Band der »Niederschrift«. Dort lässt er den Ich-Erzähler Horn anlässlich einiger Reflexionen über die kultische Bedeutung des Turmbaus eine Zusammenfassung der Lebensgeschichte des berüchtigten Serienmörders Gilles de Rais wiedergeben; und zwar so, wie Horn die Fakten angeblich in einem kürzlich stattgefundenen Gespräch mit seinem Diener Ajax von Uchri referiert habe. Da dieser sich Horns Ausführungen gegenüber misstrauisch zeigte, merkt Horn am Ende seines Exkurses über das Leben des Serienmörders an: »Es war recht unüberlegt gewesen, die ungeheuerliche Ausschweifung, das erbarmungslose Verbrechen des Marschalls von Frankreich mit meinem Traum von den Türmen zu verquicken. Ich weiß nun schon, daß die Zeichnung eines Künstlers, die das Märchen vom Ritter Blaubart darstellt, mich dazu verführt hat.«

Da Jahnn im Zusammenhang mit jener »Zeichnung eines Künstlers, die das Märchen vom Ritter Blaubart darstellt« auch auf die »Türme« der zahlreichen Burgen anspielt, in deren Verliesen man die Leichen von de Rais' Opfern fand, ging ich – damals gerade frisch im Besitz der Information, dass Jahnn Bossards »Gilles de Rais« gelesen hatte – zunächst davon aus, dass mit jener »Zeichnung eines Künstlers« der kleine Stich gemeint sei, den ein Künstler namens Paulin Carbonnier angefertigt hat und der in Bossards Buch gegenüber der Titelei abgebildet ist (s. oben). Er zeigt die Turmruine der Burg Tiffauges, einen der zahlreichen Tatorte von de Rais' Verbrechen.

Nun »stellt« aber diese »Zeichnung« nicht »das Märchen vom Ritter Blaubart dar«. Das hingegen tun die hier gezeigten Holzstiche des französischen Künstlers Gustave Doré, der damit im 19. Jahrhundert Perraults Märchensammlung illustrierte. Wie ich herausfinden konnte, hatte Jahnn auf Bornholm über die Zentralbibliothek in Rønne per Fernleihe Zugang zu den Büchern der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Von dort ließ er sich den (seinerzeit nachweislich in der Bibliothek vorhandenen) Bossard als auch möglicherweise die bekannte Volksmärchensammlung von Perrault schicken. Auf der oben abgebildeten Illustration, welche die zur Rettung herbei eilenden Brüder zeigt, ist auch der Turm von Blaubarts Burg zu sehen. Ich halte es inzwischen für wahrscheinlicher, dass Jahnn sich mit jener »Zeichnung eines Künstlers, die das Märchen vom Ritter Blaubart darstellt« auf diese/n Stich/e bezog.

Doré: Blaubart wird getötet
Doré: Blaubart wird getötet

Wie auch immer – wichtig war Hans Henny Jahnn vor allem, dass man die Hinweise auf die Texte und Themen, mit denen er sich beim Schreiben befasst hatte, zur Kenntnis nimmt und sie in die entscheidenden Zusammenhänge mit der von ihm erfundenen Handlung bringt. Dass der Ich-Erzähler Gustav Anias Horn aus der Sicht seines Erfinders einiges, das nur zwischen den Zeilen seines Berichts hervorgeht, zu verbergen hat, zeigt sich u.a. daran, dass er das Schicksal des Ritters Blaubart teilt: Auch seinem Haus nähern sich am Ende der »Niederschrift« vier Männer, die dem angeblich so hoch kultivierten und angesehenen Komponisten Gustav Anias Horn nach dem Leben trachten...

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